Heute knallen in der Spotify-Marketingabteilung die Champagnerkorken, denn es beginnt das intern wichtigste Event des Jahres: Mit „Spotify Wrapped“ liefert der Musikstreaming-Gigant seinen Kund:innen auch in diesem Jahr wieder einen für Social Media aufpolierten Jahresrückblick. Mit kreischenden Neonfarben und lustigen Animationen lenkt die Kampagne unverschämt offensichtlich davon ab, dass es sich dabei um ein Zur-Schau-Stellen von persönlichen Daten handelt – das Schlimmste daran: Sie funktioniert.
Seit 2016 veröffentlicht Spotify am Ende des Jahres einen personalisierten Jahresrückblick. Neben Lieblingssongs und meistgehörten Podcasts erfährt man neuerdings auch etwas über den eigenen Persönlichkeitstyp und Orte, an denen die meisten Menschen mit ähnlichem Musikgeschmack wohnen. Von einem trockenen Rückblick hat sich Wrapped mittlerweile zu einer esoterischen Reise in die eigene Persönlichkeit entwickelt. In einer bunten Achterbahnfahrt führt Spotify die Leute durch ihr individuelles musikalisches Jahr und vermittelt dabei immer das Gefühl, wie besonders der eigene Musikgeschmack doch sei.
Auf dem Höhepunkt der Reise bietet Spotify einem an, die Ergebnisse in den sozialen Medien zu teilen. Das kommt ungefähr so gut an, wie eine Zigarette bei einer betrunkenen Person. Noch völlig benebelt von der durch Wrapped gespiegelten Einzigartigkeit nehmen viele dieses Angebot dankend an und posten ihre gerade gewonnenen Selbsterkenntnisse beispielsweise in einer Instagramstory. Wer heute in den sozialen Medien unterwegs ist, kommt an den vielen bunten Spotify-Kacheln nicht vorbei. Sie fordern Anerkennung ein, lösen allerdings in ihrer Austauschbarkeit oft nur Langeweile aus.
Für Spotify ist das ein sehr lukratives Geschäft: Simples Daten-Scraping verpackt in ein schickes Format für Social Media bringt Millionen Menschen dazu, kostenlos Werbung für die Musikstreaming-Plattform zu machen. 2021 soll Spotify Wrapped über 60 Millionen Mal von Nutzer:innen geteilt worden sein. Die wahre Reichweite geht wahrscheinlich noch darüber hinaus, denn viele teilen ihren Rückblick über Screenshots, die nicht in die Messung eingehen.
Die Idee, den Jahresrückblick in diesem Social-Media-freundlichen Format zu gestalten kam mutmaßlich von einer Praktikantin. 2019 schlug sie die Idee mit konkreten Beispielen in einem Meeting an ihrem letzten Tag vor. Im folgenden Jahr setzte Spotify die Ideen dann um, ohne die Praktikantin dafür zu kompensieren oder zu nennen.
Ein schäbiges Geschäftsmodell
Von der Kreativität der Menschen zu profitieren, ohne sie ordentlich zu bezahlen, scheint Grundlage von Spotifys Geschäftsmodell zu sein. Über zehn Millionen Künstler:innen laden ihre Musik auf Spotify hoch – 225000 davon definiert das Unternehmen als „professionell“, also als hauptberufliche Musiker:innen. Doch aus Spotifys aktuellem Jahresbericht geht hervor, dass weniger als jede:r vierte professionelle Künstler:in mehr als den deutschen Mindestlohn im Monat ausgezahlt bekommt. Circa 0,3 Cent pro Stream erhalten Künstler:innen aktuell von Spotify – für 1000 Streams also ganze drei Euro. Ist man nicht gerade Taylor Swift oder Ed Sheeran, kann man von Spotify-Streaming-Einnahmen kaum leben.
Damit ein Song für die Monetarisierung in Frage kommt, muss er mindestens 1000 Streams pro Jahr haben und 30 Sekunden lang sein – dabei ist es egal, ob er 30 Sekunden oder 30 Minuten lang ist, der ausgezahlte Betrag bleibt gleich. Das schafft ein System, in dem es finanziell keinen Sinn ergibt, Mühe und Arbeit in längere Songs zu stecken. Die Konsequenz: Seit Jahren nimmt die durchschnittliche Songdauer kontinuierlich ab. Künstler:innen können sich keine ausufernden Klang-Experimente mehr leisten, sondern müssen in die engen Aufmerksamkeitsspannen der Hörer:innenschaft hineinspielen.
Dass Spotify Kunstschaffende ausbeutet und die Musikindustrie zerstört, nehmen viele Nutzende in Kauf, weil sie für ein vergleichsweise geringes Entgelt eine riesige Menge an Musik erhalten. Doch im Zeitalter des Überwachungskapitalismus ist der Preis, den man für digitale Dienste leistet, oft nicht monetärer Natur – die Währung besteht auch bei Spotify aus wertvollen Nutzer:innendaten.
Diese Daten trackt Spotify
Mit Erstellen eines Spotify-Kontos verschafft man dem Unternehmen einen tiefen Einblick in die eigene Privatsphäre. Welche Daten Spotify allerdings genau trackt, verrät das Unternehmen nicht direkt. Ein schwedisches Forschungsteam hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht den Panzer der Intransparenz aufzubrechen. Im Buch „Spotify Teardown“ erzählen die Forscher:innen, wie sie durch zahlreiche Interviews mit Expert:innen und Experimente im Front- sowie Back-End in das Innere der Plattform hervorstießen. So fanden sie heraus, dass Spotify über Geschlecht, IP-Adresse, Standort, Nationalität und soziale Klasse seiner Nutzer:innen Bescheid weiß.
Das sind schon sehr sensible Daten, doch aus dem persönlichen Hörverhalten lässt sich noch viel mehr ablesen. Sexuelle Vorlieben und Orientierung sind beispielsweise kein Geheimnis, wenn man über gewisse Praktiken regelmäßig Podcasts hört. Auch die Anwesenheit von Kindern im Haushalt lässt sich nach zehn Mal täglich „Alle meine Entchen“ nicht verbergen. Durch die Ohren gelangt man leicht in den Kopf und so kann Spotify auf Basis des Hörverhaltens sogar die persönliche Stimmungslage präzise analysieren.
Solche persönlichen Daten sind eine hochgefragte Ware für Werbefirmen. Was Spotify an Intransparenz gegenüber der Nutzer:innenschaft an den Tag legt, macht es durch Offenheit gegenüber Werbekunden wieder wett, fand das schwedische Forschungsteam heraus. Wer kein Spotify-Premium-Abo hat, muss sich zwischendurch Werbung anhören – damit diese genau in die jeweilige Zielgruppe trifft, liefert Spotify den Werbenden präzise Daten. Mit seinem Werbe-Modell allein hat Spotify im vergangenen Jahr 1,7 Milliarden Euro eingenommen.
Algorithmen: Erfolg für Spotify, Gefängnis für die Hörer:innen
All die gesammelten Informationen füttern die Algorithmen, die Spotify zu der hyper-individualisierten Musik-Streamingplattform machen, die sie ist. Mittlerweile hat die Konkurrenz auf dem Gebiet aufgeholt, doch in den 2010er Jahren konnte sich die Plattform auch aufgrund ihrer Empfehlungs-Algorithmen durchsetzen. Es scheint fast so, als ob Spotify nicht trotz umfassenden Datentrackings die meistgenutzte Musikstreaming-Plattform ist, sondern gerade deswegen.
Was das Marketing-Team als perfekt auf das Individuum angepasste „User-Experience“ verpackt, ist allerdings nichts weiter als eine mit Spiegeln tapezierte Gefängniszelle. Die von Algorithmen erstellten Playlists erwecken den Anschein, genau den eigenen Geschmack abzubilden – und das tun sie vielleicht auch für den einen Moment. Doch sobald man sich in den Raum begibt, schließt sich die Tür und die Hörerfahrung besteht nur noch aus Echos der Vergangenheit. Die Erweiterung des musikalischen Horizonts ist plötzlich begrenzt auf das eigene Spiegelbild.
Doch wozu neue Dinge kennenlernen, wenn man sich in sich selbst so wohl fühlt? Der eigene Musikgeschmack ist doch perfekt und alles andere erstmal egal. Solche selbstzufriedenen Züge zapft Spotify im Design von Wrapped an und tischt den Leuten einen in Neonfarben gerahmten Spiegel auf. Völlig im eigenen Jahresrückblick verloren, braucht man sich keine Gedanken mehr über ausgebeutete Künstler:innen, die zerstörte Musikindustrie oder aggressives Datentracking zu machen – denn es zählt einzig und allein, ob man es in die Top-1%-Hörer:innenschaft der Lieblingsband geschafft hat.
„Doch aus Spotifys aktuellem Jahresbericht geht hervor, dass weniger als jede:r vierte professionelle Künstler:in mehr als den deutschen Mindestlohn ausgezahlt bekommt.“
Die Aussage macht absolut keinen Sinn. Der deutsche Mindestlohn ist definiert in EUR/Arbeitszeit.
Spotify streamt hochgeladene Songs. Arbeitszeit geht da gar nicht ein und aus dem Jahresbericht auch nicht hervor.
Bei Vollzeitarbeit liegt der deutsche Mindestlohn bei ungefähr 2200€ Brutto im Monat. Weniger als 25% der Künstler:innen kriegen mehr als diesen Betrag im Monat von Spotify ausgezahlt.
Ich verstehe, was du meinst, finde die Formulierung nur mit „Mindestlohn“ auch missverständlich. So wie hier ist das besser verständlich. Fände es gut, wenn das im Text auch so stünde.